… fragte ich die Teilnehmerinnen des Seminars „Aggressive Verhaltensweisen verstehen und konstruktiv begleiten“ und präsentierte ein Flipchart, wie du es auf dem Foto sehen kannst. „Schreibe alles auf einen Notizzettel, was dir einfällt.“, ergänzte ich und gab dann eine Minute Zeit zum Schreiben.
Wenn du Lust hast, dieses kleine Experiment mitzumachen,
dann nimm dir ebenfalls einen Zettel und schreibe alles auf, was du sehen kannst.
Lies danach weiter.
Nach einer Minute bat ich die Teilnehmerinnen darum, alles vorzulesen, was sie notiert hatten. Die Antworten waren sehr vielfältig: Eine hatte einen grauen Kreis gesehen, die nächste eine Weltkugel. Die dritte beschrieb eine runde Fläche mit dunkelgrünen Streifen, die vierte einen Ball in einer dunklen Farbe. Eine der Teilnehmerinnen hatte notiert, dass sich die Fläche ungefähr in der Mitte des Blattes befindet. Eine andere beschrieb genau, dass die Farbstreifen diagonal verlaufen und die Fläche nicht vollständig ausgemalt ist. Wir staunten gemeinsam über die Vielfalt des Geschriebenen.
Die Teilnehmerinnen warteten nun ganz gespannt auf eine Auflösung. Ich fragte stattdessen, worin sich die Antworten unterscheiden und was alle Antworten gemeinsam haben. Sehr schnell einigte sich die Runde darauf, dass manche eher beschrieben und andere eher gedeutet hatten. Gemeinsam hatten sie auch erkannt, dass die Genauigkeit der Beobachtung oder die Präzision bei der Wortwahl sich sehr unterschieden. Schon an diesem Punkt war es für alle eine wichtige Lektion zum wertfreien Beschreiben. Niemandem jedoch wollte einfallen, was alle Antworten gemeinsam hatten. Diese Frage durfte ich auflösen: „Jede von euch hat ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die farbige Fläche in der Mitte gerichtet. Keine hat das Papier näher beschrieben, die feinen Linien darauf oder die Schriftzüge am unteren Ende des Blattes. Niemand hat über die Klemmvorrichtung oder die Rollen des Flipcharts gesprochen oder über irgendetwas, das über das Flipchart hinausgeht.“ – „Ahhh, jetzt fühle ich mich ertappt.“ rief eine der Teilnehmerinnen. In ihrer Stimme schwang eine große Portion Erkenntnis und ein leiser Ärger darüber, dass sie sich hatte verführen lassen.
„Genau so ist es mit dem aggressiven Verhalten von Kindern.“, fuhr ich fort, „die Aufmerksamkeit – und mit ihr eure ganze Energie – geht nur noch zu dem Verhalten, das anstrengt, auffällt oder verletzend ist. Beim hartnäckigen Versuch, Kinder zu schützen, nach Ursachen zu fahnden und endlich Lösungen zu finden, werden wir verführt, nur noch auf das Verhalten zu schauen, das für uns schwierig ist. Und dabei sind die Kinder sind so viel mehr.“
Wenn du dich hier wiedererkennst, dann frage dich gern, was du siehst und was nicht, wo genau du hinschaust und wo du bisher nicht oder nicht gründlich genug hingeschaut hast. Nimm gern die folgenden Fragen mit, um deiner Aufmerksamkeit eine neue Richtung zu geben:
- Welche Verhaltensweisen des Kindes mag ich, mit welchen finde ich einen leichten Umgang?
- In welchen Situationen zeigt das Kind andere Verhaltensweisen?
- Wann spielt es vertieft, ist hilfsbereit oder hat gute Ideen für die Gruppe?
- Welche Schritte ist das Kind schon gegangen? Was hat es dazugelernt?
Die Antworten auf diese Fragen decken Ressourcen und Kompetenzen des Kindes auf, weiten den Blick für pädagogische Handlungsmöglichkeiten, ebnen den Weg für neue Beziehungserfahrungen mit dem Kind und tragen wesentlich dazu bei, dass alle Beteiligten sich entspannen und dazulernen können.
Ich wünsche dir bei deiner Entdeckungsreise viel Freude und einige Aha-Momente.