Fachbuch

Als externe Beobachterin sehe ich in Kindertageseinrichtungen immer wieder Toiletten-, Töpfchen- oder Wickelsituationen, die in mir Irritation, Verwunderung oder auch Abwehr auslösen. Dazu gehört z. B. das hektische Durchwickeln aller Kinder nach den Mahlzeiten oder das andauernde gemeinschaftliche Topfsitzen. Diese Beobachtungen vermitteln den Eindruck, dass der Aktivität Ausscheiden als Bildungsthema in den betreffenden Kitas noch nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieser Eindruck festigt sich oft in Gesprächen. Manche pädagogische Fachkräfte praktizieren das Probieren, ob „was kommt“. Andere richten ihr Handeln auf die Wünsche der Eltern aus. Berufsanfänger:innen fehlt oft das nötige Wissen und sie übernehmen unreflektiert die gelebte Praxis.

Auf der anderen Seite erlebe ich, dass Pädagog:innen bereit sind, sich aktuelles Wissen anzueignen und das Wickeln bedürfnisorientiert und entwicklungsgerecht zu gestalten. Für diese Fachkräfte gibt es ein Buch, das aktuelles Fachwissen vermittelt und den Einstieg in eine reflektierte Auseinander­setzung mit diesem Bildungsthema ermöglicht.

Dorothee Gutknecht& Haug-Schnabel, Gabriele (2019):
Windel adé. Kinder in Krippe und Kita achtsam begleiten.
Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.

Was das Buch inhaltlich bietet

Das Buch ist in zwölf Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel begründen Gutknecht und Haug‑Schnabel, weshalb die aktuelle Literatur von der Begleitung zur Ausscheidungs­autonomie spricht, während in der Vergangenheit von einer Erziehung zur Sauberkeit die Rede war. Der begriffliche Wandel spiegelt z. B. eine veränderte Haltung gegenüber dem Kind, aber auch den Erkenntnisgewinn durch die Forschung.

Das zweite Kapitel rückt die Pflege als Bildungsbereich in den Mittelpunkt, der neben dem sogenannten Ausscheiden,
z. B. auch die Aktivitäten Kommunizieren, sich Kleiden oder Körperpflege umfasst. In unserem Kulturkreis spielt sich Pflege sowohl in der Familie als auch in Kindertageseinrichtungen ab. Für eine responsive Begleitung in diesem Bildungsbereich sollten Pädagog:innen verschiedene Voraussetzungen erfüllen. Diese werden im dritten Kapitel vorgestellt. Neben umfangreichem Wissen über die physiologische und psychologische Entwicklung sollten Fachkräfte über die Fähigkeit verfügen, Signale zu erkennen, die auf eine Bereitschaft zur Ausscheidungs­autonomie hinweisen. Darüber hinaus benötigen sie ein umfangreiches Handlungsrepertoire, um auf diese Signale angemessen reagieren zu können. Gutknecht und Haug-Schnabel machen deutlich, dass eine Kindertageseinrichtung, die ihren Bildungsauftrag ernst nimmt, das Wickeln nicht grundsätzlich als Aufgabe von  Praktikant:innen betrachten kann.

Im vierten Kapitel werden die Etappen der physiologischen Entwicklung der Blasen- und Darmkontrolle dargestellt. Anschließend werden parallel dazu stattfindende Entwicklungen in den Bereichen Ich-Bewusstsein, Sprache, Kognition und Motorik beschrieben. Die Lesenden erfahren, wie diese Entwicklungen aufgegriffen werden können und z. B. schon sehr früh Partizipation beim Wickeln realisiert werden kann. Außerdem wird nachvollziehbar, weshalb bestimmte Spielthemen, Sprachanlässe oder Verhaltensweisen auftreten. Beispielhaft seien an dieser Stelle die Freude an der Fäkalsprache oder auch das Verweigern des Toilettengangs genannt, das von Fachkräfte oft als Herausforderung erlebt wird.

Ausführlich beschreiben die Autorinnen im fünften Kapitel, wie Pädagog:innen das Wickeln und die Toilettensituation so gestalten, dass Kinder daran interessiert sind und bleiben, zunehmend selbständiger zu agieren. Als Grundlage gilt die beziehungsvolle und stressfreie Pflege mit sehr bewussten Berührungsinteraktionen. Anschaulich wird beschrieben, wie der Toiletten­gang partizipativ gestaltet und jede Aktion sprachlich angekündigt bzw. begleitet wird. Außer­dem gibt es Anregungen dafür, wie der Zuwendungsverlust kompensiert werden kann, der mit dem selbständigen Gang auf die Toilette einhergeht. Das Kapitel ist darauf ausgerichtet, die Lebensaktivität Ausscheiden als Bildungsthema zu begreifen und entsprechend zu gestalten.

Das sechste Kapitel beleuchtet kulturelle Fragen. Schnell wird deutlich, dass die dem Ausscheiden zugrundeliegenden Reifungsprozesse stark von äußeren Faktoren mitbestimmt und sogar überformt werden. Die Lesenden können sich mit unterschiedlichen Toilettenkulturen vertraut machen und die eigene reflektieren. Außerdem wird das Entstehen von Schamgefühl in diesem Kapitel erläutert. Darüber hinaus wird der Trend, Babys ohne Windeln aufwachsen zu lassen, erklärt und kritisch gewürdigt.

Im siebenten Kapitel erfolgt eine differenzierte Betrachtung zur Bedeutung anderer Kinder in der Gruppe. Das Beobachten ausscheidungsautonomer Kinder gilt als motivierend und das Erlernen der Abläufe kann dadurch ebenfalls unterstützt werden. Gleichzeitig regen die Autor:innen zu Achtsamkeit an. Die Präsenz von Kindern verursacht zahlreiche Reize, die die Wahrnehmung körperlicher Vorgänge beeinträchtigen oder die Fachkraft von zugewandten Interaktionen ablenken. Das Kapitel macht außerdem auf die Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen aufmerksam und gibt Impulse für eine genderbewusste Begleitung aller Kinder in der Kita.

Die Bedeutung des Waschraums als erweiterter Erfahrungsraum ist Thema des nächsten Kapitels. Die Autor:innen geben Anregungen aus der Praxis, wie sich auch ältere Räume mit fehlendem Bewegungsspielraum einladend gestalten lassen. Es wird betont, dass die gute Atmosphäre wichtig ist, um etwa vorhandenen Ängsten lustvolle Erfahrungen entgegen­zusetzen. Weiterhin werden die Vor- und Nachteile von Töpfchen, Einmalhandschuhen und Handtüchern besprochen. Dabei gehen Gutknecht und Haug‑Schnabel differenziert auf das Spannungs­verhältnis zwischen pädagogischen und hygienischen Anforderungen ein.

Das neunte Kapitel widmet sich der Frage, wie Kinder unterwegs oder draußen, abweichend von vertrauten Gegebenheiten, in ihrem Entwicklungsprozess begleitet werden können. Tipps zu nützlicher Ausstattung oder Alternativen zum Abhalten ergänzen das Kapitel.

Typische Phänomene und Schwierigkeiten im Prozess der zunehmenden Ausscheidungs­autonomie sind Gegenstand des zehnten Kapitels. Gutknecht und Haug-Schnabel informieren über Häufigkeiten, Ursachen und Handlungsmöglichkeiten. Viele Fachkräfte kennen z. B. das Verlangen nach einer Windel für den Stuhlgang, das Einnässen während intensiven Spiels oder Rückschritte, die z. B. im Zusammenhang mit der Geburt eines Geschwisterkindes auftreten. Daneben gibt es aber auch das Einnässen, welches durch Stress in der Kita ausgelöst wird. Abgerundet wird das Kapitel durch die Darstellung der Situation von Kindern mit Entwicklungs­verzögerungen oder körperlichen bzw. geistigen Behinderungen. Lesende erhalten hilfreiche Erklärungen, Beobachtungsfragen und wertvolle Hinweise für präventives Arbeiten.

Das elfte Kapitel ist der Zusammenarbeit mit den Eltern gewidmet. Die Autor:innen benennen die Ziele von Entwicklungsgesprächen rund um das Thema Ausscheidungsautonomie und beschreiben schwierige Elternstrategien – vom Auslagern bis zum Drängen – und wie Pädagog:innen darauf eingehen können. Lesende werden dafür sensibilisiert, wie wichtig und gleichzeitig beschämungsanfällig die Abstimmung zwischen Elternhaus und Kita bei diesem Thema ist. Das Kapitel klärt außerdem über häufige Mythen und überlieferte Strategien vom nächtlichen Wecken bis zu Belohnungssystemen auf, die unter Laien anzutreffen sind.

Im letzten Kapitel betonen Gutknecht und Haug‑Schnabel die Notwendigkeit, sich als Team mit dem Thema auseinanderzusetzen. Sie schlagen Reflexionsfragen vor, z. B. zur Biographie rund um das Ausscheiden, zum Umgang mit Ausscheidungsbedürfnissen im Berufsalltag und zu Empfindungen wie Ekel oder Scham. Außerdem gehen sie darauf ein, weshalb und wie Schlüsselsituationen konzeptionell verankert werden sollten.

Weshalb ich dieses Buch empfehle

Das Buch bietet einen aktuellen, umfassenden Überblick zur Entwicklung der Ausscheidungs­autonomie und wie diese Entwicklung achtsam begleitet werden kann. Dabei werden konkrete Heraus­forderungen aus der pädagogischen Praxis aufgegriffen. Zusätzlich lädt das Buch ein, die Perspektive von Kindern einzunehmen und deren Herausforderungen zu verstehen.

Das Buch ist kompakt geschrieben und übersichtlich strukturiert. Farbige Überschriften und unterlegte Textabschnitte erleichtern die Orientierung und das Lesen selbst. Der Text wird ergänzt durch zahlreiche Fotos und vielfältige Beispiele. Besonders hilfreich sind die konkreten Anregungen zur Gestaltung von Situationen und Dialogen. Ergänzend dazu finden die Lesenden eine Auswahl an Bilderbüchern zum Themenkreis Ausscheidung und Abschied von der Windel.

Das Buch eignet sich sowohl für Berufsanfänger:innen als auch für erfahrene Fachkräfte und Teams, die die gelebte Interaktionsqualität rund um das Ausscheiden reflektieren und weiterentwickeln möchten oder Unterstützung für den Dialog mit Eltern suchen.

Die erste Fassung dieser Rezension habe ich 2020 für das Berliner Institut für Frühpädagogik geschrieben.